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Das kulturnationale Modell des ‚nation building‘ erfuhr im 19. Jahrhundert eine große Verbreitung in Nordosteuropa. Einen wichtigen Baustein bildete die Suche nach ‚nationalen‘ Ur-Texten, die als Zeugnisse für die Existenz der ‚Nation‘ dienten. In Lettland (damals Livland) stieß dieses Auf(er)finden von Texten auf besondere Bedingungen: Die Ur-Texte erklangen nicht auf Lettisch, sondern auf Deutsch, in der Sprache der deutschbaltischen Oberschicht. Der ‚nationale‘ Text also eine Übersetzung? Welcher Transformationen bedarf es, um zu einem (lettischen) ‚nationalen‘ Text zu werden? Dieser Frage wird mit Hilfe von kultursemiotischen und translationswissenschaftlichen Ansätzen am Beispiel der Übersetzungsgeschichte von Garlieb Merkels abolitionistischer Schrift ‚Die Letten‘ (1796) nachgegangen. Die Autorin schlägt vor, Übersetzungsgeschichte als Teil der Rezeptions- und Literaturgeschichte zu lesen.